anamed: Wie alles begann

Ein Beitrag zur Problemlösung der Gesundheitsversorgung in der Dritten Welt

Eine Nacht als medizinischer Mitarbeiter,1986, in Zaire

Dreimal werde ich in dieser Nacht geweckt: Tata Mvungi, (Papa Hirt), es ist höchste Zeit, meine Frau zu retten, fahr endlich los ....
Seit 14 Uhr weiß der Mann schon, dass sich bei seiner Frau die Nachgeburt nicht löst; etwas, was in kurzer Frist zum Tode führen kann. Das nächste Hospital ist 55 km weit entfernt. Warum, so mache ich meinem afrikanischen Mitbruder Vorwürfe, habt ihr sie nicht gleich am Nachmittag ins Krankenhaus getragen? Dann wärt ihr jetzt schon dort. Der einzige Arzt im Krankenhaus, verantwortlich für eine Bevölkerung von 250.000 Menschen, wird vor Müdigkeit jetzt in der Nacht sowieso nicht aufstehen können. Mehr noch. Meinem Chauffeur musste ich kündigen, ich selbst bin mitten im Malariafieberschub; es regnet, was bedeutet, dass ich hundertprozentig im Schlammweg stecken bleiben werde: Stunden, Tage, je nachdem, wann der Regen aufhört. Der Staat bezahlt die Straßenarbeiter nicht mehr. Am letzten Sonntag habe ich die Bevölkerung gewarnt, dass ich keine Krankentransporte mehr durchführen würde, wenn die Leute die Straße nicht ehrenamtlich reparieren. Niemand regte sich.Wer unterernährt ist, ist eben auch nur schwer für Gemeinschaftsaufgaben zu gewinnen. Mit einem Wort, ich fahre nicht und ernte dafür den Vorwurf: Dann bist eben du schuld, wenn meine Frau stirbt! Das ist unsere Lage hier, und ich bin damit sicher nicht allein in Afrika: Ein modernes Gesundheitssystem, das wegen fehlender Infrastruktur, fehlendem Personal, fehlendem Geld für Medikamente und fehlender Krankenstationen kaum mehr funktioniert. 
Aber die Geschichte geht noch weiter. Nach zwei Tagen. Ich traue meinen Augen nicht; begegne ich eben dieser Frau auf dem Weg zur Feldarbeit! Wie ist das möglich? frage ich mich und sie. Antwort: Ja, wissen Sie, wir sind dann eben zu einer traditionellen Hebamme gegangen, sie hat im Urwald ein paar Kräuter zusammengesucht. Ich bin doch erstaunt. Haben wir doch chemisch alles probiert, was unser modernes System bietet an Medikamenten! Gibt es Kräuter, die wirksamer sind, und wenn ja, warum hat man uns nichts davon gesagt? Ich bekomme zur Antwort: Ja, weißt du, Ihr Weißen haltet das ja doch alles für Zauberei!

Antipathie und Vorurteile

Kann man es noch deutlicher sagen, mit wie viel Antipathie das Verhältnis zwischen moderner und traditioneller Medizin belastet ist?
Die Kolonialherren haben ohne große Selbstzweifel rundweg die gesamte afrikanische Medizin als traditionell, sprich altmodisch im Vergleich zur westlichen, sprich modernen Medizin abgestempelt. Übrigens: Henry Stanley hat bei seiner Erforschung des Kongobeckens 1877 nicht nur Entdeckungen gemacht, sondern nebenbei auch achtundzwanzig größere Ortschaften dem Erdboden gleichgemacht. Bei so viel Feingefühl der Eroberer ist ihr fehlendes Vertrauen in die fremden Methoden auch im medizinischen Bereich wohl leicht verständlich. Das geht noch heute so weit, das wirkt noch so nach, dass z.B. in Kenia oder an der Elfenbeinküste auch in unseren Tagen traditionelle Heiler nicht praktizieren dürfen. Dreißig Jahre ist es her, dass die Weltgesundheitsorganisation eine Aufwertung und eine Integration traditioneller Heilmethoden in das Gesundheitssystem des jeweiligen Landes empfohlen hat. Erfolg? Vielleicht wird in einem Bruchteil afrikanischer Hoch- und Krankenpflegeschulen die Wirkung europäischer Kamille und Pfefferminze gelehrt, doch für die Anwendung sehr viel stärker wirkender einheimischer Pflanzen bleibt nicht mehr als ein Lachen übrig.
Der Kongo (früher Zaire) exportiert tonnenweise Arzneipflanzen nach Europa, ohne dass Anbauer oder Krankenpflegepersonal deren Anwendungsbereiche wüssten. Importierte Ware hat grundsätzlich einen höheren Wert als einheimische: Entsprechend erhöht sich mit der Quantität importierter Arzneimittel auch das Ansehen der einheimischen Kirche und der Zulauf zur entsprechenden Konfession. Und noch etwas deutet diese Geschichte an:
die Angst, die da herrscht im Dreieck Krankenpflegepersonal, Heiler(in), Patient. Benennen wir nur einige der jeweiligen Schwächen. Der Heiler, ein Analphabet, der seine Erkenntnisse und Erfahrungen mit ins Grab nimmt und von richtiger Dosierung oder sogar Konservierung seiner Produkte sehr wenig Ahnung hat. Der Krankenpfleger, der bezahlt werden will selbst dann, wenn der Patient nicht gesund wird oder gar stirbt (etwas, was der Afrikaner nicht verstehen möchte) und der ganz einfach keine Verbindung zu den Ahnen aufnehmen will oder kann, obwohl doch entsprechend dem Glauben gerade dort Krankheitsursache und auch Heilung verborgen liegen.
Und da ist der Patient mit Kopfweh, der sich bei einem Scharlatan eine Spritze aus Flusswasser und Milchpulver in die Stirn injizieren lässt, dann zum Magier, anschließend zum Herbalisten und irgendwann, oder gar gleichzeitig, zum Krankenpfleger geht, ohne jeweils von der Konkurrenz zu erzählen.
Zweifellos ist da auch unsere, der Weißen, Angst. Angst vor den unbekannten Größen einer lehrbuchlosen Medizin, Angst vor dem fehlenden Waschzettel, den der Schöpfer vergaß, mit der Heilpflanze mitwachsen zu lassen.

Als die Soldaten Alexander des Großen in Afrika Oleanderzweige gebrauchten, um Fleisch darüber zu braten, starben sie daran: Sicher machte man eher den Teufel dafür verantwortlich als die eigene Ignoranz über afrikanische Gift- und Heilpflanzen! Ignoranz führt zur Verschwendung der eigenen Möglichkeiten. Wenn aber ein Land in einer derart dramatischen ökonomischen Krise steckt wie die Länder Afrikas, so dass viel zu viele Menschen an den einfachsten Krankheiten sterben, dann wird Ignoranz zur Verschwendung von Wissen, das Menschenleben hätte retten können.

Darf man die einheimischen Medikamente einfach ignorieren?

… Darf man sie ersetzen durch fremde Medikamente, zu Werbezwecken und wirtschaftlichem Nutzen der europäischen Industrie?
Antwort: Ja, man darf anscheinend!
Denn man ist ja vom ersten Tag der Dritte-Welt-Arbeit an oft ein Gefangener von Zwängen. Der deutsche Arzt soll möglichst früh durchgängig am OP-Tisch stehen; die Schwester aus Deutschland oder aus anderen Ländern der westlichen Welt soll möglichst viele Patienten durch den Krankenhausbetrieb durchschleusen, der Pfleger neben seiner eigentlichen Arbeit zusätzlich Diesel einkaufen, Autos reparieren, kurz, alle Erwartungen in ein System sollen erfüllt werden, an das wir selbst nicht mehr so recht glauben können. Wenn erst jeder ausreichend Zugang zu Medikamenten und billiger Behandlung habe, sei er auch gesund:
Von daher überzog man die Kolonien früher mit einem möglichst dichten Netz von Dispensaires, sprich Verteilstationen. Aspirin-Werbechansons im Rundfunk, Chloramphenicol und Tetrazyclin mit Schokoladengeschmack, all das nährte eben die Hoffnungen, denen wir heute weder finanziell noch personell noch organisatorisch entgegenkommen können.
Schlimmer: Die Grenzen der sogenannten Dritten Welt sind sogar ein Bollwerk für die grüne Welle, die in europäischen Apotheken wogt. Selbst hochgebildete Afrikaner reagieren mit einem ungläubigen Staunen auf die Bemerkung, dass in Europa Hunderte von Teemischungen angeboten werden. Viele Gesundheitsentwicklungshelfer haben nicht nur keine Zeit für traditionelle Medizin, sondern sind eher vom Gegenteil überzeugt.
Öffnet eine solche Geheimwissenschaft nicht den Scharlatanen große Möglichkeiten? Wie wollen Heiler ihre Medikamente standardisieren, wie haltbar machen? (Im tropischen Klima schmeckt selbst ein Pfefferminztee aus Deutschland nach sechs Monaten nach Stroh.) Sind die Methoden, z.B. der traditionellen Hebammen, nicht furchtbar unhygienisch (z.B. Kuhmist auf den Neugeborenennabel zur Abheilung)? Und die Pflanzennamen divergieren von Dorf zu Dorf. Dann ist da noch ein Verdacht:
Ist das Interesse der Weltgesundheitsorganisation (WHO) an der traditionellen Medizin nicht vielleicht ein übler Trick, die Bevölkerung mittels traditioneller Heilmittel auf einem billigen gesundheitlichen Minimalzustand zu halten, indem man ihr so die Errungenschaften der westlichen Medizin vorenthält?

Traditionelle Hebammen und ein Heilpflanzengarten

Afrikanerin mit einer Artemisia-Pflanze in der Hand

Wir haben es trotzdem gewagt: Seit dem eingangs erwähnten Geschehen darf jede Schwangere die traditionelle Hebamme ihres Dorfes mitbringen, die während des gesamten Geburtsvorganges anwesend ist. Seit zwei Jahren führen wir Kurse für traditionelle Hebammen durch: Ein Heilpflanzengarten dient Besuchern zur Diskussion; regelmäßig finden Kurse für Heilpraktiker statt. Einen wachsenden Anteil unserer Medikamente produzieren wir mit einheimischen Mitteln. Was hat uns (und auch die einheimische Kirche) dazu bewogen? Heilpflanzen sind leicht zugänglich, billig bis umsonst und auch nach politischen Umstürzen noch erhältlich. Ihre Verarbeitung zu Arzneimitteln gibt die Möglichkeit, das in den Krankenstationen erwirtschaftete Geld wieder als Lohn in das Dorf zurückfließen zu lassen (34 % der arbeitsfähigen Bevölkerung in der Dritten Welt sind arbeitslos!). Wer in Afrika lebt, weiß die folgenden Werte zu schätzen:
Devisenersparnis, Einsparung von Frachtgebühren, Abbau der Abhängigkeiten von Zollbestimmungen, Zollgebühren und monatelangen Wartezeiten am Zoll!

Traditionelle Heilverfahren rufen Verwandte und die Dorfgemeinschaft in ihre Verantwortung am Heilungsprozess. Wir lernen vom intensiven Verhältnis zwischen Patient und Heiler, auch in religiöser Hinsicht. Der Heiler steht in der Verpflichtung der Ahnen. Er kann seine religiöse Verantwortung nicht auf einen Klinikseelsorger abschieben. Während sich der Chefarzt im Hospital verbunkert und anschließend seinen Feierabend im gut umzäunten Gebäude verbringt, steht der Heiler mit dem Patienten auf vergleichbarem Niveau. Traditionelle Medizin hängt nicht von den Schikanen der Weltbank ab, bezahlt wird per Tauschhandel (die Beschneidung eines Jungen kostet z.B. ein Huhn). Der Medizinmann handelt integriert, das heißt, er behandelt und verhütet Zustände, die als solche von der Bevölkerung als schwerwiegend angesehen werden: Kinderlosigkeit, Arbeitslosigkeit, eine schlechte Ernte. Warum interessiert sich der Arzt nur für die paar Würmer im Bauch? Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Bundesbürger mit seinen knapp 800 Tabletteneinnahmen pro Jahr auch nicht unbedingt sehr gesund ist. Wie steht es in Jeremia 46,11: "Aber es ist umsonst, dass du viel arzneiest, du wirst doch nicht heil!"
Vielleicht ist gerade das der Grund, warum viele Europäer sich alternativen, an afrikanischem Gedankengut angelehnten Heilmethoden zuwenden. Gesundheit und Wohlbefinden werden nicht mehr von einer bestimmten Chemikalie erwartet, sondern von der (Re-)Integration in eine harmonische Gemeinschaft.

Entwicklungshilfe beginnt mit der Hochachtung vor dem Vorhandenen

Es gibt keinen Grund, westliche und südliche Medizin gegeneinander auszuspielen. Zu bedenken ist aber doch, dass die Volksmedizin in Afrika in vorkolonialen Zeiten nicht weniger entwickelt war als z.B. in Asien oder China. Die Kunst des Kaiserschnitts, der arteriellen Gefäßnaht, der lnfektionsprophylaxe war vorhanden und ist nur deswegen verlorengegangen, weil sie eben (im Gegensatz zu z.B. Ayurveda-Medizin) nicht schriftlich festgehalten war!

Was können Entwicklungshelfer zu ihrer Wiederbelebung tun?

  1. Einheimisches Krankenpflegepersonal kann bereits während der Ausbildung die Wirkung von Heilpflanzen kennen lernen; selbst wenn keine Lehrbücher darüber vorhanden sind, lediglich durch gegenseitigen Erfahrungsaustausch, Diskussion mit Patienten und Heilern.
  2. In den sowieso schon vorhandenen Gesundheitskomitees der Dörfer können Fragen der Pflanzentherapie erörtert werden:
    Dabei bietet sich die Gelegenheit, Fragen anzuschneiden, für die sich die Komitees bisher nicht zuständig fühlten (Vergiftungsfälle, Familienplanung usw.).
  3. Auf Einladung des europäischen Mitarbeiters können Heiler und traditionelle Hebammen zur Weiterbildung (z.B. in Hygiene), Erfahrungsaustausch (etwa über zu riskante Therapien) zusammenkommen.
  4. Der Entwicklungshelfer oder der Missionar kann eine(n) einheimische(n) Pfleger(in) freistellen, um alle verfügbare Information über Heilpflanzen zu katalogisieren. Dieser Mitarbeiter kann Literatur besorgen, sei es in Europa, sei es an der einheimischen Universität.
  5. Heiler und traditionelle Hebammen führen zu einer finanziellen Entlastung der Gesundheitsarbeit, indem sie erlernte präventive medizinische Regeln kostenlos weitergeben.
  6. Maßnahmen zur Erhaltung der Natur werden eher eingesehen, wenn man darauf hinweist, dass die Buschfeuer ja ihre eigenen Medikamente verbrennen. Vielleicht gelingt sogar eine fast kostenlose Wiederaufforstung an vitaminproduzierenden Bäumen? (Wettbewerbe veranstalten: Welches Dorf, welche Schule hat pro Person die meisten Vitaminbäume gesetzt?)
  7. Eine kleine Tube Fußpilzsalbe kostet in der Hauptstadt das Monatsgehalt eines Arbeiters (6 Euro); viele Slums sind von Apotheken übersät. Hier sollten europäische Entwicklungshilfeorganisationen den Mut haben, Anti-Apotheken-Apotheker einzustellen, wenigstens pro Gebiet eine Person, die der einheimischen Gruppe oder Organisation hospitalübergreifend hilft, fremde Abhängigkeiten zu verringern. Ich glaube, gerade auf dem Gebiet der Medikation sind wir in der Entwicklungshilfe noch weit von dem entfernt, was der zairische Pfarrer Citoyen Paluku gefordert hat:
    Entwicklung darf nicht übergestülpt werden, sondern muss sich aus dem Innersten eines Landes heraus entwickeln. Die wirklichen Künstler der Entwicklungshilfe sind die Bewohner selbst, die ihre Bedürfnisse und Probleme kennen oder sich deren bewusst geworden sind. Die anzuwendenden Techniken müssen einfach, praktisch und wirtschaftlich sein. Anders gesagt, sie müssen an der Türe zur Bevölkerung stehen, die sie verstehen muss und ihren Gewinn daraus ableiten kann.